In the Closed Room

Frances Hodgson Burnett

translated by Sarah Schemske

Excerpt

In ihrer sonderbaren kleinen Seele trug Judith ein Geheimnis, von dessen Existenz niemand wusste. Es war die leise Gewissheit, unwirklich zu sein – sie spürte, dass das Leben, in das sie geboren worden war, nicht ihr gehörte.

Sie liebte ihre Mutter und ihren Vater und wurde von ihnen geliebt, doch manchmal war sie kurz davor, ihnen zu sagen, dass sie nicht mehr lang bleiben konnte. Dass es ein Irrtum war. Sie wusste nicht, worin dieser Irrtum bestand oder wohin sie gehen würde. Sie hielt jedes Mal voller Angst inne, wenn sie kurz davor war, von dieser Phantasterei zu sprechen. Doch das Haus voller Arbeiterwohnungen, der überhitzte Raum und die streitenden Leute – sie alle waren ein Irrtum.

Bisher hatte sie in ihrem Leben nur ein- oder zweimal Orte und Dinge gesehen, die ihr nicht fremd vorgekommen waren. Einmal, als sie im Frühling in den Park gegangen waren, hatte Judith ihre Mutter aus den Augen verloren und einen abgeschiedenen Ort entdeckt, wo ihr die Büsche und Bäume mit ihren frischen grünen Blättern, die dank der Wärme der letzten Tage gesprossen waren, freundlich winkten.

Es war ruhig an diesem Ort, voller Düfte und Farben, die ihr vertraut vorkamen. Ein Vogel ließ sich auf einem Ast gleich neben ihr nieder und schaute sie mit großen runden Augen an, während er ein sanftes Lied sang, als ob er zu ihr spräche. Ein Eichhörnchen kletterte auf ihren Schoß und bewegte sich nicht von der Stelle, während sie es streichelte.

Auch seine Augen waren groß und sanft. Es wusste, dass sie ihm niemals wehtun könnte. Alles um sie herum war grün und sie verständigte sich wortlos mit den Waldtieren.

Dieses Erlebnis war kein Irrtum gewesen.

Kaum hatte sie das Gebüsch zur Seite geschoben, fiel ihr eine offene Kutsche auf, die auf dem Weg angehalten hatte. Die Frau, die in der Kutsche saß, unterhielt sich mit einer Bekannten, die zu Fuß ging. Die Frau war jung, in zarte Frühlingsfarben gekleidet, und das kleine Mädchen an ihrer Seite war ganz in Weiß gehüllt. Dieses Mädchen faszinierte Judith besonders. Ihr Gesicht sah unter dem hellen Hut und den Federn aus wie eine weiße Blume. Sie hatte ein tiefes Grübchen im Mundwinkel. Ihr Haar hatte die Farbe von dunklem Kupfer und fiel ihr lang und schwer über die Schultern.

Als das Kind in den gewöhnlichen Kleidern aus dem Gebüsch stieg, schaute das Mädchen auf und sah Judith genauso an, wie es Vogel und Eichhörnchen getan hatten. Ihre Blicke trafen sich, als würden sie einander schon seit Jahren kennen, als würde sie nichts trennen.

Beide waren erfreut über die Nähe der jeweils anderen und keine stellte sich die Frage, ob sie einander jemals wieder begegnen würden. Nicht einmal, als sich die Kutsche nach wenigen Minuten in Bewegung setzte und in der Masse der anderen Gefährte verschwand.

In den unerträglichsten Stunden der heißen Sommernacht rief sich Judith die Frische dieses Tages ins Gedächtnis. Sie erinnerte sich an das blasse junge Grün in dem geheimen Winkel zwischen den Büschen, an den Geruch von Blättern und Gras, an die Vertrautheit in den Augen des Vogels, des Eichhörnchens und des Mädchens. Sie lächelte, als sie an diese und andere Dinge dachte, und Stück für Stück wich die Hitze von ihr. Sie vergaß nach und nach das Dröhnen des Zuges – ihr Lächeln wurde breiter –, sie lag ganz still – es war abgekühlt –, eine leichte, frische Brise wehte durch das Fenster und strich über ihre Stirn. Sie lächelte sanft, als ihre Augen zufielen.

„Ich wache auf“, murmelte sie, als ihre Wimpern ihre Wangen berührten.

© Copyright 2021 by Sarah Schemske